Früher war mein 'About' ganz kurz, aber eines Tages las ich bei Hermann Scherer, dass ein ausführliches 'About' viel besser ist. Nach einigem Abwägen stimmte ich ihm zu, weil Du gerne wissen darfst, mit wem Du es hier zu tun hast. Viel Spaß beim Lesen!

Heilung beginnt mit einer Entscheidung

Schon als Kind habe ich mich sehr wohl gefühlt in der Natur. 


Als Teenie kam ich in Kontakt mit Pferden, Hunden und Katzen und habe gemerkt, dass ich mich auf dem Land wohler fühle als in der Stadt, an deren Rand mein Elternhaus stand.


1977 beschloss Direktor Hedke, mich nicht in die siebente Klasse, damals noch Quarta genannt, seines Gymnasiums versetzen zu wollen und ich kam auf die Realschule, was meine innere Kündigung in Sachen Schule zur Folge hatte. Von Stund an habe ich mich nicht mehr angestrengt, im Gegenteil. Das führte zu einem sehr schlechten Abschluss. Der wiederum ließ mir keine Wahl bei den Lehrstellen und so nahm ich die, über Vitamin-B ergatterte, in einer großen Anwaltskanzlei. Hauptsache ich saß nicht auf der Straße, wie meine Eltern stetig anmerkten.


Da saß ich nie in den nächsten Jahren. Aber zufrieden war ich auch nicht. Selbst das über den zweiten Bildungsweg absolvierte Studium der Betriebswirtschaft brachte mir zwar zunächst finanziell etwas mehr Luft, aber keine Zufriedenheit. 


Es schloß sich eine Zeit der häufigen Jobwechsel an. Schließlich landete ich in einer Forschungsgesellschaft nicht etwa als Betriebswirtin, sondern als Tippse. Ich saß am Computer und schrieb nach Diktat Forschungsberichte. Spätestens da wurde mir klar, dass ich in die völlig falsche Job-Richtung losgelaufen war. Statt für andere zu schreiben, wollte ich viel lieber selber schreiben, möglichst ein Buch. Nur was und worüber? 


Ich verließ die Forschungsgesellschaft, ging zum TÜV in die medizinisch-psychologische Abteilung und schrieb kein Buch. Meine erste Ehe ging in der Zeit in die Brüche und meine Seele gleich mit. Man schickte mich zur Psychologin. Die riet mir, mit meinem damaligen Mann zusammen zu bleiben und auf keinen Fall Kinder zu bekommen. Das fühlte sich zwar nicht richtig an, aber ich glaubte ihr. Schließlich war ich ja psychisch krank und vielleicht dadurch nicht urteilsfähig. Ich blieb beim Gatten und schob das Thema Kinder auf die lange Bank. Die war aber nicht lang genug, denn zack war das Thema wieder da und ich kreuzunglücklich, weil Er keine wollte. Zum Glück ging er fremd und ich schließlich ein für alle Mal aus der gemeinsamen Wohnung.


Ich schrieb mich mit meiner Fachhochschulreife bei der Fachhochschule ein und begann das Studium der sozialen Arbeit. Damit versuchte ich mir zu beweisen, dass ich doch irgendwie eine gewisse Intelligenz besaß, wenngleich die soziale Arbeit mich vor allem wegen der Fächer Pädagogik und Psychologie interessierte, der Rest war mir ziemlich egal. Nein, es gab keine anderen Studiengänge an der Fachhochschule, die mich interessierten. Denn mit der Fachhochschulreife konnte man nur Soziale Arbeit, Betriebswirtschaft (nicht schon wieder !!) oder Ingenieurwesen studieren, und das lag mir noch ferner. Nachdem ich in den ersten beiden Semestern fleißig Pädagogik und Psychologie belegt hatte, war mir klar, was mit mir los ist. Schlechte Erfahrungen in der Kindheit und deren Folgen hatten letztlich zur Wahl des falschen Partners geführt. Als es schließlich Zeit wurde Zeit für das erste Praktikum im Rahmen des Studiums, besorgte ich mir ein sechsmonatiges Visum für Australien, ein vierwöchiges Praktikum in der Außenstelle eines Klosters in der Nähe von Brisbane und flog nach Down Under. Ich lebte bei einer der Nonnen, die übrigens ein Schweigegelübde abgelegt hatte, und kutschierte aus der Bahn geratene Jugendliche von einem Shoppingcenter zum nächsten, backte mit ihnen Pizza und langweilte mich, weil man nicht genug für mich zu tun hatte. Nach zwei Monaten lief das Fass ‚Australien‘ über und ich flog zurück. Dabei hatte ich mir eigentlich vorgenommen, überhaupt ganz dort zu bleiben. Aber der Betreiber meines Gedankenkarussells war irgendwann gegangen und hatte vergessen den Strom auszuschalten, so dass es Runde um Runde drehte und an Entspannung nicht zu denken war. Ich schlief schlecht und war irgendwie immer auf der Flucht. Dafür musste ich nicht durch Australien reisen, das ging billiger zu Hause. Dort wieder angekommen, ging mir das Geld aus, ich brauchte einen Job. Bafög war für junge Studenten, ich war schließlich schon 30! 


Mein jüngerer Bruder erzählte zufällig von einer neuen Filiale eines Motorradbekleidungs- und Zubehörgeschäfts in Hamburg. Da ich leidenschaftlich gerne Motorrad fuhr, zog ich in Erwägung, hiermit einen Neustart zu wagen. Als Betriebswirtin glaubte ich mich in der Lage, so ein Geschäft führen zu können. Allerdings gab es gleich zwei Kehrseiten dieser Medaille, denn der Laden lag in der Großstadt Hamburg und ich würde nicht angestellt sein, sondern müsste mich selbstständig machen. Ich überwand meine Angst vor beidem und suchte mir eine Altbauwohnung in Eimsbüttel, dem Stadtteil, in dem auch das Geschäft lag. Vier Monate später war ich pleite und brauchte dringend einen Anwalt, um aus der Fußfessel ‚Handelsvertretervertrag‘, der meiner Einzelhandelskarriere zugrunde lag, einigermaßen unbeschadet zu entkommen. Nun ist es so, dass Großstadt-Anwälte auch Großstadt-Honorare kassieren und da in meiner Tasche nichts mehr klimperte, bat ich meinen Vater, in seine zu greifen. Ganze 10.000 DM zog er hervor, bis alle Rechnungen beglichen waren. Da stand ich nun in dieser großen Stadt mit reichlich Schulden und wieder ohne Job. Doch es hatte auf diesem steinigen Weg ein Edelstein gelegen und ich hatte ihn entdeckt. Eines Tages kam nämlich ein gutaussehender Student in meinen Motorradbekleidungsladen und fragte nach einer Hose, die seine langen Beine nicht nur zu zwei Dritteln, sondern ganz bedecken würde. Natürlich konnte ich ihm damit nicht helfen, denn ich hatte nur, was die breite und die normale Masse trägt, nicht aber was die lange brauchte. Stattdessen bot ich ihm an, mit seiner Zwei-Mann-Band an einem Samstag in meinem Laden für Livemusik zu sorgen. 


Als drei Jahre später unser Sohn geboren wurde, waren der Laden, das Leben in der Großstadt und die Schulden fast vergessen. Doch ich will die Zeit dazwischen nicht unerwähnt lassen. Nachdem ich mit dem Laden fertig war, kam ich durch die Schwester von dem gutaussehenden Studenten, der übrigens Mario heißt, in Kontakt mit einem Geschäftsführer einer Software-Firma. Die suchte einen Mitarbeiter für ein internes Web-basiertes Content-Management-System. (Damals der absolute Renner.) Anfangsgehalt: 3000,- €, Tendenz steigend. Ich bewarb mich ohne auch nur einen Funken von Internet-Programmiererei zu verstehen und überzeugte durch meine große Klappe und mein überwiegend geheucheltes Interesse am WorldWideWeb, denn ich bekam den Job und damit die Sicherheit, den Schuldenberg zügig wieder loswerden zu können. Immer noch blicke ich darauf zurück und wundere mich über den Mut, den ich damals hatte, mich auf diesen Job einzulassen. Meine geringen Programmierkenntnisse aus dem Betriebswirtschaftsstudium polierte ich nun täglich während der Arbeit und vor allem nach der Arbeit auf. Ich las und schrieb seitenweise Code ohne etwas zu verstehen. Doch eines Abends beim zweiten Glas Rotwein machte es Klick. Plötzlich produzierte ich Codezeilen, die liefen. Von da an wurde ich Java-Script und ASP-Spezi. Nach der Probezeit stieg mein Gehalt und der Schuldenberg schrumpfte zum Schuldenhügel. 

Marios Ingenieurs-Studium näherte sich dem Ende und er bekam einen festen Vertrag bei dem Arbeitgeber, bei dem er sein Praktikum im Bereich Videotechnik absolviert hatte.


Wir lebten jetzt in einer schleswig-holsteinischen Stadt mittlerer Größe, wurden Eltern und gewannen ein Haus. Der Hausgewinn brachte uns in Bewegung, viel schneller als gewollt und so weit raus aus der Komfortzone, dass selbst ein Fernglas sie nicht mehr in die Nähe zu bringen vermochte. Denn jetzt mussten wir uns mit Finanzierung beschäftigen, mit Grundstückserwerb und vor allem eine Entscheidung fällen, wo wir zukünftig leben wollten. Nach einigen schlecht geschlafenen Nächten entschieden wir uns für ein kleines Nest, das günstige Grundstückspreise zu bieten hatte und einen Teil der Verwandtschaft zu seinen Einwohnern zählte.  


Wir verschuldeten uns mit dem Keller und dem Grundstück während wir das Haus geschenkt bekamen. ‚Ein tolles Haus!‘, wie viele fanden … aus Stein, Niedrigenergie, Lüften möglichst nur durch die eigens eingebauten Lüftungsklappen in jedem Zimmer, viel Beton, kein Holz.  Aber Holz war uns eigentlich wichtig. Wenige Wochen vor dem Hausgewinn hatten wir mit einem Berater einer Holzhausfirma zusammen gesessen und unser Traumhaus entwickelt. Zugegeben der Traum war geplatzt nachdem wir seinen Preis erfuhren, aber der Wunsch nach Holz war hartnäckig wie ein Newsletter, den man mal schon gefühlte zehn mal abbestellt hat. Eines abends lagen wir in unserem neuen Bett, in dem neuen Schlafzimmer, in dem neuen Haus, in dem Neubaugebiet, in dem neuen Ort und ich sagte etwas Neues. Ich sagte: „Ich will hier nicht leben. Ich finde das Dorf und das Neubaugebiet total doof.“ Und Mario sagte auch etwas Neues. Er sagte nicht etwa: „Bist du irre, wir sind doch gerade erst hierher gezogen.“ Nein, er sagte: „Ich auch.“


Damit war der Startschuss gegeben für ein Holzhaus in …. ja, wo? Das Problem mit der Ortswahl war kein Stück kleiner geworden. Kein einziges, kleines Stück. Letztlich entschied der Dieselpreis unsere Wahl und wir zogen zurück Richtung Hamburg. Du wirst es nicht glauben, aber wir zogen wieder in ein Neubaugebiet, weil Lückenbebauung im Hamburger Speckgürtel nicht mehr stattfindet. Es gibt nämlich keine Lücken mehr, sind alle gefüllt mit Häusern von Menschen, die schneller und reicher waren. Freie Grundstücke lagen in Neubaugebieten und selbst die waren rar gesät. Wir kauften 440 qm, ausreichend für ein Holzhaus, einen Schuppen und ein Carport. Sogar unserem alten, kleinen Wohnwagen schuffen wir noch ein Plätzchen. 

Kurz nach dem Einzug wurde unsere Tochter geboren. In meiner Vorstellung war das der Zeitpunkt, an dem unser dreijähriger Sohn in den Kindergarten gehen sollte. Aber der Kindergarten hatte eine ganz andere Vorstellung und verwies uns auf den Spät-Sommer. Quereinsteiger waren nicht erwünscht. Versuche, unseren Sohn solange in einer Kinder-Musikgruppe unterzubringen oder in der offenen Kinderbetreuung eines Fitnessstudios oder wenigstens beim Kinderturnen fruchteten stets darin, dass mir nach kurzer Zeit die Gruppenleitung mitteilte, dass unser Sohn die Gruppe stört und man sich außer Stande sähe, ihm und den anderen gerecht zu werden. Ich kam mir vor wie eine Kuckucksmutter, die versucht, ihr Ei in ein fremdes Nest zu legen, aber jedes Mal ertappt wird. 


Als der Kindergarten schließlich sein ‚Go‘ gab, war Titus vier Jahre alt und alles andere als ein Teamplayer. Er haute, kniff und log, er störte und zerstörte und er hatte Tics. Man empfahl mir eine Therapie für ihn. Die gab’s gratis von der Lebenshilfe: Frühförderung. Wir fuhren viele Nachmittage viele Kilometer in die nächste Kleinstadt, damit Titus mit Sandsäcken beschwert wurde, Spiele spielte, Koordinationsübungen machte und sich in dieser 1:1 - Situation als umgängliches Kind zeigte. 


Doch im Kindergarten änderte sich nichts. 


Kurz vor der Einschulung nahmen die Tics zu und er machte unfreiwillige Bewegungen mit seinem Arm. Eine Art Schwenkbewegung, dazu quiekte er wie ein Meerschweinchen. Als ich ihn fragte, warum er das mache, sagte er, ‚das mache ich nicht und ich weiß auch nicht, warum mein Arm das macht.‘ Das Quieken nahm er gar nicht wahr. 

Ich las mich in die Tic-Problematik ein und kam recht schnell zu dem Punkt Tourette. Hier fand ich eine Erklärung für Titus’ außergewöhnliches Verhalten.


Inzwischen war auch den anderen Kindern aufgefallen, das Titus irgendwie anders war und bestraften ihn mit Hänseleien. Heute sagt man Mobbing. Er verdrehte die Realität noch öfter zu seinen Gunsten, war unfair, laut und hatte einen unsäglichen Spaß daran, Dinge jeglicher Art zu zerpflücken. Playmobilmännchen und Spielzeugautos wurden in alle Einzelteile zerlegt, Regale geleert ohne an ihrem Inhalt wirklich interessiert zu sein, Möbel waren zum Klettern da und er baute Maschinen, Autos, Schiffe … möglichst alles innerhalb weniger Minuten und wenn das misslang, packte ihn die Wut.


Das Neubaugebiet hatte sich nun um uns herum gefüllt und die Nachbarn waren wenig begeistert von unserem Sohn. Er machte zunächst einen so netten Eindruck auf sie, war offen und fröhlich, aber wenn er mit anderen Kindern spielen sollte, übernahm er das Ruder, kommandierte sie herum und zerstörte ihre Lieblingsspielsachen, so dass dem ersten Treffen maximal noch ein weiteres folgte, wenn überhaupt.


Nicht nur andere Kinder, sondern auch wir, als seine Familie, fanden ihn mitunter äußerst anstrengend wie eine Fliege im Spätsommer, die dir in die Haare fliegt, auf die Wimpern, ständig im Gesicht rum krabbelt und sich einfach nicht verscheuchen lässt.


Ich las unzählige Fachbücher, suchte die Schuld in der Familie, veränderte mein eigenes Verhalten, suchte Rat und scheiterte immer wieder. Titus blieb wie er war: Anstrengend und meist alleine. Meine vergebliche Mühe und die Kraft, die er mich kostete trieben mich in dunkle Gedanken. Ich heulte immer öfter. Obwohl mir klar war, dass ich auf der Einbahnstraße in die Depression radelte, hoffte ich, dass eines Tages mein Schutzengel am Straßenrand auftauchen würde, den genialen Plan in den Händen haltend, wie ich aus der Nummer wieder raus käme. Tat er aber nicht und Mario hieß er auch nicht. Der arbeitete in Hamburg, ging um 7:30 aus dem Haus und kam wieder, wenn ich die Kinder gerade ins Bett gebracht hatte. An einigen Wochenenden spielte er mit seiner Band auf Veranstaltungen in der näheren und weiteren Umgebung, um damit das Geld für den jährlichen Campingurlaub in Dänemark zusammen zu kratzen. 


Im ersten Schuljahr angekommen, wollte Titus’ Klassenlehrerin ihn als unbeschulbar einstufen lassen. Sie telefonierte oft mit mir und riet mir, ihn nicht zu lasch zu behandeln. Ich sollte ihm mehr Grenzen setzen. Ich dachte: „Noch mehr?“, und „sie weiß doch gar nicht, wie ich mit ihm umgehe.“


So wie ich Titus erlebte, war zu viel Action für ihn wie der Stich in das Wespennest. Anscheinend hatte er Schwierigkeiten, den Trubel um sich herum zu filtern. Sein Gehirn hielt nicht viel vom Löschen, Verzerren oder Verallgemeinern, sondern nahm die Herausforderung an, die mindestens zwei Millionen Reize pro Sekunde bewusst zu konsumieren und den drohenden Crash durch permanente Bewegung zu kompensieren.


Bei einem durch seine Auffälligkeiten veranlassten Intelligenztest in der Kieler Uni für Kinderpsychologie verlor er das Interesse an dem Test und baute stattdessen den Kugelschreiber, den man ihm in die Hand gedrückt hatte, auseinander. Der Test durfte nicht gewertet werden, aber ‚wenn er ihn zu Ende gemacht hätte, dann wäre da wohl ein mehr als durchschnittliches Ergebnis heraus gekommen‘, so die Psychologin.


Ich stand zwischen den Stühlen: Einerseits raubte mir Titus meine Lebensenergie und ich fühlte mich völlig überfordert von ihm, andererseits liebte ich ihn über alles. Jede Minute, die ich ihn nicht um mich hatte, war kostbar geworden und verstärkte gleichzeitig mein schlechtes Gewissen. Meine Antwort auf diesen Spagat waren die Zwillingstöchter von Erzieherin Carina aus dem Kindergarten unserer Tochter. Babysitting-erfahren und stets zu zweit hoffte ich, dass ich mir so ein paar Stunden Ruhe kaufen konnte. Doch nach wenigen Begegnungen der beiden mit Titus war ihre Freude über den Job auf Null gesunken und sie gaben vor, keine Zeit mehr zu haben. Während andere Mütter ihre Kinder bei den Omas, Tanten, Freundinnen und befreundeten Müttern parkten, stellte sich bei uns einfach niemand ein, der gewillt war, mit Titus mehr als ein paar Stunden zu verbringen und das auch nur auf meine Nachfrage hin, nie von alleine. 

Meine größte Freude in der Zeit waren die wenigen Gelegenheiten, in denen ich Zeit für unsere Tochter hatte. Sie war das komplette Gegenteil von Titus und ich sehnte mich nach diesen Inseln der Stille und des Friedens. Vorlesen, gemeinsam etwas malen oder singen. Für mich pure Erholung. 


Nach gut fünf Jahren Neubaugebiet, drei Jahren Kindergarten, einem Jahr staatlicher Grundschule, einem Jahr Privatschule und kurzen Teilnahmen an Musikalischer Früherziehung, Röhnradfahren, therapeutischem und nicht therapeutischem Reitunterricht, Kindertheater und Kinder-Outdoor-Aktivitäten war klar, dass es so nicht weitergehen konnte. Titus schien nicht integrierbar. Mich überkamen inzwischen unvorhersehbare Panikattacken und Heulkrämpfe. Er klebte an mir wie die Fäden eines spätsommerlichen Spinnennetzes. Ich kann mich noch gut an an ein Telefonat aus der Zeit erinnern. Eine Mutter wollte mir gerade die Maße ihres Kindes durchgeben, denn ich verdiente mit dem Schneidern von Kinderlederhosen und -puschen etwas dazu. Titus sprach mich jedoch ständig an, so dass ich in den kleinen Raum flüchtete, in dem unsere Wäsche trocknete. Kaum, dass ich die Tür hinter mir verschlossen hatte, schrie er vom Flur aus und hämmerte mit seiner sechsjährigen Faust dagegen. Die Frau am Telefon war verunsichert und fragte, was da los sei. Ich beruhigte sie und sagte: „Das ist nur mein Sohn. Kein Grund zur Sorge. Es geht ihm gut.“ Ich weiß nicht, ob sie mir glaubte. 


Egal, ob ich telefonierte, zum Klo ging oder einen anderen Grund hatte, ihm kurz meine Aufmerksamkeit zu entziehen, er reagierte mit Geschrei oder tat Dinge, von denen er wusste, dass ich darauf reagieren würde.


Menschen keine Ruhe zu gewähren ist in früherer Zeit eine Foltermethode gewesen. Was sollte ich machen? Titus’ Stecker ließ sich nicht ziehen. 


Ich sprach mit Mario. Da wir uns beide in dem Neubaugebiet als auch in der Gegend nicht wohl fühlten, beschlossen wir, erneut den Wohnort zu wechseln. Wir wollten ein großes Grundstück mit Platz zum Klettern und toben. Davon versprach ich mir mehr Seelenfrieden und vor allem Ruhe. Wenn Titus auf dem eigenen, großen Grundstück schrie, kletterte oder irgendetwas zerstörte, kam ich wenigstens nicht in Konflikt mit den Nachbarn. Die Bestandsimmobilien, die wir uns zu dem Zweck angeschaut hatten, waren allesamt renovierungsbedürftig oder schlichtweg nicht erschwinglich für uns. So kam es, dass wir unser drittes Haus bauten in einem Obstgarten eines ehemaligen Bauernhofs. Viele alte Bäume, viel Platz.


Doch die Grundschule im nahen Ort hatte ebenso ihre Schwierigkeiten mit unserem Sohn wie die Schulen davor. Ich hatte bei der Anmeldung extra nichts erwähnt von Titus’ Auffälligkeiten, um einen kompletten Neustart hinzulegen. Schon bald wurde ich auch hier wieder per Elternheft aufmerksam gemacht, in die Schule bestellt, angerufen oder auf dem Flur angesprochen. Ständig war das Kind in Auseinandersetzungen verwickelt, konzentrierte sich kaum, war laut, lenkte andere ab und galt als frech.


Das einzige Fach, in dem er wirklich glänzte, war Heimat- und Sachunterricht. Er zeichnete Waldtiere mit Details, die anderen Kindern scheinbar vollständig entgingen. Überhaupt fiel den Lehrern auf, dass er sich ungewöhnlich gut Einzelheiten merken konnte. Sie nahmen ihn in die Theatergruppe der Schule auf und wir erlebten etwas, das wir kaum für möglich gehalten hatten. Wenn er Theater spielte, waren seine Tics und Bewegungsauffälligkeiten schlichtweg nicht vorhanden, und er spielte richtig gut. In der vierten Klasse bekam er die Hauptrolle und die zahlreichen Eltern feierten ihn mit ihrem Applaus. 


Mein Gesundheitszustand hatte sich jedoch mittlerweile so weit verschlechtert, dass ich nun jeden Abend, wenn das Licht ausging, entsetzliche Angst bekam und nicht einschlief. Titus hatte zu der Zeit die Angewohnheit, gegen 22:00 Uhr aufzuwachen und so herzzerreißend zu schreien, dass wir anfangs glaubten, er habe Schmerzen. Jedes Mal lief einer von uns in sein Zimmer, um ihn dort im Bett sitzend vorzufinden, nicht wirklich wach und Worte stammelnd, die keinen Sinn ergaben. Wir nahmen ihn den Arm und trösteten ihn, scheinbar jedoch ohne Wirkung. Vielmehr hatten wir den Eindruck, dass er unsere Versuche gar nicht wahrnahm. Stattdessen legte er sich irgendwann wieder hin und schlief weiter. Inzwischen konsultierte ich eine Psychologin, die allerdings nicht über die Kasse abrechnete, sondern privat. Sie war die Einzige, die überhaupt Termine anbieten konnte, alle anderen vertrösteten mich mit einer Wartezeit von mehreren Monaten. Nach einigen Begegnungen riet sie mir, ‚das Kind muss aus der Familie raus‘. Diese Empfehlung fühlte sich jedoch für mich nicht stimmig an und ich ging nicht mehr hin. 


Irgendwann entstand der Gedanke, dass eine Krankheit mich retten würde. Wenn ich krank wäre, dann müsste ich nicht mehr funktionieren, dann wäre ich entschuldigt und dürfte mich ausruhen. Ich dachte damals, ich möchte zu einem Schamanen, der mich in seinem Zelt beherrbergt, der mich pflegt und schlafen lässt, bis ich wieder gesund bin. Vor meinem geistigen Auge war ein konkretes Bild entstanden, das von Zeit zu Zeit auftauchte: Ich, krank auf dem Lager, wurde umsorgt und gepflegt.


Das war ungefähr die Zeit, in der das Buch Beltaine in mein Leben kam. Beltaine erzählte eine Geschichte mit keltischem Hintergrund. Der in Schwierigkeiten geratene Protagonist holte sich Rat bei einer weisen Frau, die ihm im Wald begegnete. Die Figur dieser Frau, sie war eine Druidin, berührte mich so sehr, dass ich die Autorin anschrieb und fragte, ob es möglich sei, bei dem noch bestehenden Druiden-Orden auf weise Menschen zu treffen, die man um Rat fragen durfte. Sie antwortete mir, dass sie mir bei der Suche behilflich sein will, doch der Kontakt brach ab und ich beließ es dabei. Ich schämte mich, dass ich so hilflos war und nach diesem lächerlichen Strohhalm griff. 


Aus den Einschlafschwierigkeiten wurde nun Schlaflosigkeit. Ich hatte zahlreiche Nächte, in denen ich einfach wach blieb, so wie man das Licht in der Garage vergisst auszuschalten und dann morgens feststellt, dass es wohl die ganze Nacht an war. Ich zog aus dem gemeinsamen Schlafzimmer in den Anbau, weil ich hoffte, dort Ruhe zu finden. Aber nicht einmal das brachte mir den Schlaf. Ich quälte mich durch die Tage, mein häufigster Ausspruch wurde ‚das schaff‘ ich schon irgendwie’ und funktionierte. Dafür schlief ich tagsüber ein, kaum, dass ich mich hinsetzte. Meine Augenringe wurde schwärzer und ich bekam immer öfter heftige Schmerzen im Nacken. Der Arzt sagte, ich solle mich mehr bewegen und wenig Schlaf sei nicht so schlimm. Es gäbe sogar Menschen, die ihr Leben lang nur 2-3 Stunden/Nacht schliefen. Als der rechte Daumen nicht mehr so richtig funktionierte und mein rechter Fuß taub wurde, versuchte ich nochmal Gehör zu finden beim Arzt, aber er riet mir zu mehr Bewegung.

Als mein Bein beim Fahrradfahren ständig wegknickte, war mir klar, dass ich eine ernstzunehmende Erkrankung hatte. Immer wieder sagte ich, ‚wenn das so weiter geht, lande ich noch im Rollstuhl.‘ Mario antwortete mir, ‚ach, was‘ und so blieb ich weiter wach in den Nächten, heulte, funktionierte und wartete auf den Tag, an dem ich komplett zusammenbrechen würde. Ich glaubte auch immer noch, dass eines Tages jemand merkte, in welchem Zustand ich mich befand, mir endlich den Alltag abnahm und ich Ruhe finden würde. 


Doch derjenige blieb weg und meine Gesundheit stahl sich weiter davon. Sie schlich sich aus könnte man auch sagen. Erst rutschte mir das Besteck aus der Hand und ich fiel öfter hin, zum Beispiel, wenn ich in unseren VW Bus einsteigen wollte. Ich kann mich an das erste Mal erinnern, als ich das rechte Bein hob, um mich auf den Fahrersitz zu setzen. Eine Windbö erfasste mich, ich fiel in Zeitlupe um und verletzte meine Hand auf den spitzen Kieseln unserer Auffahrt. Von da an geschah so etwas öfter. 


Ein Neurologe gab mir einen kurzfristigen Termin, weil ich sagte, dass ich meine Hand nicht mehr richtig bewegen könne. Er untersuchte mich mittels Strom und gab an, dass er nichts Auffälliges finden konnte. Aber er vereinbarte einen MRT-Termin für mich: Drei Wochen später und leider morgens um 6:30 Uhr. Das war der nächste, den er kriegen konnte. 


Da ich inzwischen ca. zwei Stunden morgens brauchte, bis meine Nackenschmerzen so weit erträglich waren, dass ich aufstehen konnte nach dem langen Liegen in der Nacht, sagte ich den Termin kurz vorher ab, weil ich mich einfach nicht mehr in der Lage fühlte, zu der frühen Stunde dort erscheinen zu können. Und ich sagte noch jemand anderem ab, nämlich dem Leben.


Ich gab einfach auf. Zwei Monate später, als ich nichts anderes mehr konnte als Liegen, begleitet von höllischen Schmerzen, ließ ich mich auf eigenen Wunsch in die Psychiatrie einweisen. 


Nächsten Tag flog ich wieder raus, hatte aber einen Termin in der Uni-Klinik. Dort war ich zwei Wochen zuvor bereits in der Notaufnahme vorstellig gewesen, aber mit der Aussage, ‚nicht ersthaft erkrankt zu sein‘ wieder nach Hause geschickt worden.


Durch das Vitamin B der Psychiatrie wurde ich kurzfristig untersucht und ins MRT geschoben und bekam eine niederschmetternde Diagnose: Tumor im Rückenmark, bereits sehr groß, vielleicht sogar Krebs.


Es war kein Krebs, aber es folgten drei sehr schwere OPs in vier Jahren, von denen mich die erste in den Rollstuhl zwang durch eine anschließende halbseitige Lähmung der rechten Körperhälfte. 


Die Aufenthalte in der Neurochirurgie der Universitätsklinik waren so traumatisierend, dass ich nach der dritten OP beschloss, nie wieder, in absolut keinem Fall, einen Fuß in ein Krankenhaus zu setzen und vor allem, meine Heilung zukünftig selbst in die Hand zu nehmen.


Kostenoptimierung im Gesundheitsbereich ist so, als würde man seine Kinder in Designer-Kleidung stecken, damit sie hübsch aussehen und bewundert werden, aber wenn keiner hinguckt, mit dem Rohrstock verprügeln. 


Ich habe ein Kochbuch, das sich mit dem Kochen nach den fünf Elementen beschäftigt, eine asiatische Betrachtung von Ernährung. Darin hatte ich einst gelesen, dass Patienten deutlich schneller gesunden, wenn sie nicht, wie in herkömmlichen Krankenhäusern, mit billigen und viel zu oft erhitzten Lebensmitteln versorgt werden, sondern mit bedacht zubereitetem Essen aus hochwertigen Lebensmitteln, das ihnen im besten Fall auch noch mit Ruhe angereicht wird, sofern sie nicht selber essen können.


Als ich weder in der Lage war, mich aufzurichten noch mit beiden Händen irgendetwas zu bewirken, bekam ich dennoch mein Essen abgedeckelt auf den rollbaren Multifunktionstisch gestellt. ‚Guten Appetit‘ hieß es und schon war die Tür wieder zu. Ich hatte mehrere Male angemerkt, dass ich so kaum essen konnte, vor allem keine Kiwis oder Bananen. Doch diese beiden Obstsorten bekam ich häufig als Nachtisch. So begann ich schließlich, Kiwis mit Schale zu essen, um wenigstens ein paar Vitamine zu bekommen. Mach’ ich übrigens heute noch.


Mittlerweile bin ich Spezi geworden wie man einen weiten Bogen um Krankenhäuser und unbelehrbare Schulmediziner macht. Das wird immer leichter, je mehr ich mich mit meiner Intuition, energetischer Medizin und Selbsthypnose beschäftige. Und ich habe die Stille in mein Leben eingeladen.


Ich gehe auch nicht mehr zu den fruchteinflößenden MRT-Kontroll-Terminen, obwohl mir dringend davon abgeraten wurde. Angst ist Gift für das Immunsystem. Stattdessen entwickele ich positive Visionen, verbanne kontinuierlich alles Negative und arbeite mit meinem Unterbewusstsein, denn das ist der wahre Chef im Leben. 


Titus, unser Sohn, ist ein gesunder, junger Mann. Sein Tourette hat sich mit Einsetzen der Pubertät verabschiedet. Die Schule hat er in der 11. Klasse verlassen, um sich selbstständig zu machen. Er trägt eine ungewöhnliche Weisheit in sich, mit der er seine Vision nährt: Er möchte dazu beitragen, das völlig antiquierte Schul- und Ausbildungssystem zu reformieren. Dazu hält er Vorträge an interessierten Schulen. Und im letzten Jahr hat er ein Startup gegründet. Wir beide sind in tiefer Liebe verbunden und pflegen den Austausch. 

Und ich? Durch viel Training bin ich mittlerweile wieder in der Lage zu joggen, Fahrrad zu fahren, zu schwimmen, zu zeichnen, mit zehn Fingern die Tastatur meines Laptops zu bedienen und Treppen hoch und runter zu gehen. Nebenbei habe ich die Figur Enniah entwickelt, die ihre Inspiration in dem Roman Beltaine fand. Mit ihr möchte ich all denen Menschen helfen, die dringend einen Rat brauchen.


Wir könnten so viel entspannter, gesünder und zufriedener leben, wenn wir ein paar grundsätzliche Informationen über unsere unglaublichen Fähigkeiten schon zu Beginn unseres Lebens erhielten. Je mehr Menschen ich mit meinem Wirken erreiche, desto eher kann dies eintreten.


Jula Wolf, September 2022